Der folgende Artikel wurde im Grazer Volksblatt am 4. April 1884 veröffentlicht. Der Autor bezieht sich in diesem auf ein Buch, das bereits 1792 erschien: Die „Skizze von Grätz“.
Die verwendeten Bilder sind Postkarten aus dem Ansichtskartenportal der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB/AKON).
Graz vor neunzig Jahren.
Vor kurzem kam mir eine „Skizze von Grätz“, gedruckt im Jahre 1792, in die Hand. Ein Wort Voltaire’s, das ziemlich pathetisch klingt, dient als Motto; ein zweites von Dietz: „Der Schwache fürchtet das Urtheil Anderer, der Thor setzt sich darüber hinaus, der Weise untersucht es,“ bereitet auf die stellenweise ziemlich ausgiebig verwendete Satire vor.
Der „Eingang“ begegnet im Vorhinein einer Menge von Einwendungen und wirft ein ziemlich helles Licht auf die etwas kindische Kritisiersucht des damaligen aufgeklärten und für Kleinlichkeiten oft genug engagierten Publicums, zu dem aber auch der unbekannte Verfasser sich ungescheut rechnen kann. Er ist eben auch groß in kleinen Dingen und schwärmt mit unendlichen Ernste für gewisse Reformen im Bereiche des Wachskerzen und Ministrantenröcke, und eben weil er in einer josephinisch durchreformierten Stadt uns Geist und Wirken eines Interessanten Systems von Standpunkte eines mitinteressierten Augenzeugen zeigt, hat die Skizze mehr als bloß localen Wert. Aber auch so enthält sie viel des Anziehenden, da sie uns die liebe Murstadt in ihrer alten Gestalt in ziemlich deutlichem Bilde, das theils an sich, theils durch des Autors Kunst einzelne freundliche Partien aufweiset, zeigt. – Der Verfasser dürfte dem Beamtenstande angehört haben, und zwar scheint die auffallende Vertrautheit des Mannes mit den Kenntnissen „ex publico – ecclesiasticis“ denselben unter Koryphäen des Cultus-Departements zu rangieren. – Tempora muantur et nos mutamur illis! Nicht einmal „Lage und Name von Grätz“ sind heute eben dieselben wie vor neunzig Jahren; denn der große, damals wütende Streit über Graz, Grez, Grätz oder Gräz ist geschlichtet und Graz ist Sieger geblieben. Der Autor entschied sich aber für Grätz, weil es im Volksmunde seit dreihundert Jahren nicht anders geheißen habe. Die Lage muß aber damals insoferne eine andere gewesen sein, als sie heute Niemand mehr als „sanft majestätisch“ bezeichnen wird und von einer „Erkletterung“ des Schloßberges jetzt kaum mehr die Rede sein kann.
Die Befestigung der Stadt war, wenn nicht eine „lächerliche“, so doch eine „unnütze“, und unser Autor freute sich nicht wenig, daß Grätz nicht mehr auf der Liste der offiziellen Festungen stand.
Nur zwei Brücken führten in die Vorstädte; die eine reichte fast bis zum Mittelpunkt der Stadt und lag nur zum Theile (30 Kl. Lang) über der Mur; dieser Theil war gedeckt und hatte rechts und links Kramläden; der andere Theil war mit Steinbauten eingesäumt. Die zweite (Albrechtsbrücke?) – 1787 gebaut, galt als Meisterwerk der damaligen Baukunst. Die fünf Thore sind heute noch – mindestens dem Namen nach – in Aller Erinnerung; das Burgtor entstand 1787, indem man über den Stadtgraben eine Brücke zur Burg schlug. – Den Namen eines Platzes verdiente nur der Hauptplatz; der aber war durch Baracken und Ständchen der Haarpuder-Verkäuferinnen, Fleischselcher, Oebstlerinnen und Bäcker verunziert; die ersten beiden Klassen ehrenwerter Geschäftsleute wurden aber 1790 vertrieben. Von sechzehn großen und dreizehn kleinen Gassen war die Herrengasse die breiteste, die Sporgasse die unbequemste, die Schmiedgasse die unruhigste, die Murgasse die volkreichste, die Neugasse die unflätigste, die Färbergasse zu gewissen Stunden die – galanteste.
Zwanzig Brunnen lieferten „gutes, frisches, durchaus gesundes Wasser“; denn man hatte damals weder eine Wasserleitung, noch tüchtige Chemiker, welche die Leute darüber belehrt hätten, daß der diesbezügliche gute Ruf der „Grätzer“ Stand gänzlich unbegründet sei. – Die innere Stadt war durch zwei Säulen „aus dem vorigen Jahrhundert“ geschmückt; denn „die heutigen Grätzer würden sich schwerlich entschließen, solche Säulen zu errichten, weil sie besser als ihre Vorfahren wissen, wohin dergleichen Vorstellungen der heiligsten Dinge ihrer Religion gehören.““ Ein Geißler des achtzehnten Jahrhunderts! Auch er fand Widerstand; denn es habe noch 1790, erzählt er mit Entrüstung, ein Volkslehrer beweisen wollen, daß die Pest durch die Dreifaltigkeitssäule abgewendet worden sei. – Drei „!!!“ sind die drei Kreuze vor einem solchen Aberglauben. Dafür glaubt der Autor steif, daß Grätz schönere Häuser als Leipzig besaß, weil ihm das Jemand mitgeteilt hat. Diese schönen Häuser waren: der Lesliehof, die Palais Attems, Saurau, Stubenberg, Lengheim, Herberstein, das Weiß’sche Haus, Paradeis, das Sartori’sche Haus.
In der Murvorstadt, sie zählt 1000 Häuser, befanden sich „vor der weisen reformazion Joseph II.“ zwei Begräbnisplätze, wo alle Grätzer „eingescharrt“ wurden, die kleine Familiengrüfte hatten, oder sich nicht einen Platz in einer Kirche sicherten. „Jetzt findet der Adelige und Unadelige, der Bemittelte und Unbemittelte seine Ruhestätte auf einem weit von der Stadt, westwärts gelegenen, ummauerten Felde.“ In der Leonhardvorstadt fanden Gelehrte ein ruhiges Plätzchen für ihre Studien, und Seladons ihre Seufzer Allee. Die Jakomini-Vorstadt wuchs seit 1785 aus dem Boden heraus; es herrschte seit dieser Zeit ein Gewühl, wie es Virgil in Betreff der Erbauung Karthagos beschrieb. (!) – Der Verfasser muß einige Mühe anwenden, um die Bewohnerzahl, die er auf 40.000 angibt, heraus zu bringen; dabei erfahren wir, daß im Jahre 1790 beiläufig ebenso viele gestorben sind als geboren wurden, nämlich 1400; daß Handel und Wandel in Folge der Errichtung von Fabriken zugenommen; daß die Freigebung des Gewerbes die Luft zum Ehestande erhöht habe; daß endlich der Mietzins trotz der vielen Neubauten sehr gestiegen sei. Der Aufschwung der Stadt bewirkte leider einen Andrang von Bauernbuben und Mädchen, die hier demoralisiert wurden. Pferde zählte man nur 653; aber beim Luegg harrten bereits Fiaker auf Passagiere; sie waren sogar nummeriert, obschon Niemand auf die Nummer sieht, da hier nicht so Betrügereien vorkommen, wie in Wien.
Das liebe Grätz von damals war so hundereich, wie Graz heute; man liebte die „weißen Pommer“, die eigentlich Stallhunde sind, aber von den Damen zu Schoßhündchen erzogen wurden. Der „Spitzerl“ war mancher „Grätzerin“ so unentbehrlich wie der Liebhaber. Bald wird der Hund karessiert, sagt der Autor, und der Liebhaber geneckt, bald dieser begünstigt und der Spitzerl geplagt. Es komme vor, daß es in einem Hause von drei Stockwerken vierundzwanzig Hunde gebe; der Magistrat müsse eine Hunde-Taxe einführen, sonst wird dem Hunde-Überfluß nicht gesteuert.
Ein Kapitel über die „Konsumption in Grätz“, das wegen Ungenauigkeit der Quellen vom Autor selbst als bloßer Calkul bezeichnet wird, überschlagend, vertiefen wir uns nun in den „Politischen Charakter der Grätzer“ und legen den Embryo der radikalsten Stadt der Monarchie unter das Mikroskop.
Es herrschte damals eine „gemeinsame Anhänglichkeit“ an die Geburtsstätte; aber die Anzeichen der sich einstellenden „wirklichen Vaterlandsliebe“ waren da. – Man glaube an die Weisheit und Güte des herrschenden Scepters und empfinde einen „lebhaften und enthusiastischen (!) Unwillen“ gegen die belgischen Insurgenten. Man hänge an der Dynastie; beim Tode Maria Theresias seien Tränen geflossen, – und auch beim Tode Josephs – doch nicht so viele! Mit wahrem Entzücken bringen die Grätzer am Kronprinzen Franz und alle Hoffnungen setzen sie auf ihn. Die Neuerungen der „vorigen“ Regierung haben keinen sonderlichen Eindruck gemacht. Man murrte nicht einmal gegen den Freihandel.
Die Grätzer von damals waren sehr moralische Leute; denn sie stahlen nicht und betrogen Niemanden; waren artig, höflich, gesellig und gutherzig. Acte der Selbsthilfe oder Selbstrache kommen gar nicht vor. – Aber ein wenig sinnlich ist das Volk. Steiermark war als ein „Freßland“ bekannt und auch die Grätzer liebten Essen und Trinken, – und ihre Mittel erlaubten ihnen das, denn bis dahin hatte Wohlstand geherrscht.