
Am 24.11.1911, um 12:53 Uhr, kommt Josef Kaiser mit einem Zug der Wieserbahn in Graz an. Begleitet wird er von zwei Gendarmen. Einige Neugierige sind ihm sogar nach Graz mit der Bahn gefolgt. Die Wieserbahn – lt. „Grazer Volksblatt“ – konnte seit dem Bestehen der Bahnlinie noch nie ganze 70 Personenkarten in Pölfing-Brunn auf einmal verkaufen. Hier steigt Kaiser nämlich ein. Um 6:30 Uhr geht er in Arnfels in Handfesseln mit seinen Bewachern los und kommt nach zweieinhalbstündigem Marsch am Bahnhof an. Wie im ersten Teil der Geschichte beschrieben, wird er in Verbindung mit einem Raub und zwei Raubmorden in Verbindung gebracht.
An allen Stationen der Bahn warten Schaulustige, um einen Blick auf den „Mordbuben“ zu erhaschen. Auch in Graz sind Neugierige bereits am Südbahnhof – dem heutigen Hauptbahnhof – versammelt. Sie bekommen eine wenig majestätische Erscheinung in seinem abgetragenen schwarzen Anzug und einem lichtbraunen runden Filzhut zu sehen. Josef Kaisers finsterer Blick ist zum Boden gerichtet. Er reagiert nicht auf die Verwünschungen, mit denen die Menge ihn begrüßt: „Lynchen soll man diesen H…“, „Am besten gleich niederschlagen!“, „Gebt’s ihm eine Ohrfeige!“ („Grazer Volksblatt“, Abendausgabe, 24.11.1911, S. 2.) Kaiser wird sicher zu einem geschlossenen Fiaker begleitet und zum Landesgericht gebracht. Die Sightseeingtour – wobei Kaiser die Hauptattraktion ist – endet an diesem Tag in einer Zelle.
Mediale Fahndung

Dasmediale Interesse beginnt mit dem Mord an Josef Happich im Jänner 1911. Der Täter ist zu diesem Zeitpunkt freilich noch unbekannt. Die „entsetzenerregende Nachricht von einer grausigen Bluttat“ („Grazer Volksblatt“, Abendausgabe, 25.01.1911, S. 2) wird jedoch verbreitet. Der Stand der Suche nach den zwei mutmaßlichen Mördern wird der schockierten, gleichzeitig interessierten, vielleicht auch faszinierten Leserschaft berichtet. So fahndet gefühlt die ganze Steiermark nach zwei unbekannten Burschen, in denen man die Mörder vermutet. Sie waren Sitznachbarn von Josef Happich im Gasthaus von Blasius Löschnitzer in Dobl. Dadurch haben sie mitbekommen, dass der Rauchfangkehrmeister eine größere Geldsumme mitführte. Sie werden als „mittelgroß, ungefähr 22 Jahre alt, mit dunklem Schnurrbartanflug, regelmäßigen Gesichtsformen“ („Grazer Volksblatt“, Abendausgabe, 25.01.1911, S. 2) beschrieben.
Junge Männer in diesem Alter werden schnell zu Verdächtigen. So wird einige Tage später von zwei 18-jährigen Burschen berichtet, die zum Mordzeitpunkt ihre Arbeitsstelle in Köflach verlassen haben. Die Hilfsarbeiter mit den Namen Seier und Sabukoscheg werden bald steckbrieflich gesucht. Gleichzeitig machen sich in Voitsberg die Bergleute Vinzenz Pollanz und Friedrich Steingruber verdächtig, da sie nur nach eineinhalbtätiger Arbeitsleistung ihre Arbeitsstelle im Zangtaler Kohlenbergbau bei Voitsberg verlassen haben. Eine weitere Spur führt wiederum nach Gleisdorf und Urscha (Gemeinde Gleisdorf), wo ebenfalls zwei verdächtige Burschen gesehen worden seien („Arbeiterwille“, 29.11.1911, S. 4).


Nicht immer hat die verständigte Polizei gleich reagiert. So ließ sich ein Wachmann von Sankt Stephan (heute Gratkorn?) nicht bei seinem Mittagessen stören. Er wurde zwar über ein verdächtiges Individuum im Gasthaus des Herrn Florian Wastian vulgo „Flegelwirt“ informiert, meinte aber nur dazu, dass er später nachschauen kommen werde. Dabei passte die Beschreibung eines der Gesuchten auf diesen Mann, der sich zusätzlich sehr merkwürdig benahm: „Der Verdächtige hatte die Kapuze des Wetterkragens auf den Kopf gestülpt und verlangte sofort nach seiner Ankunft die Zeitung. Er schaffte sich Essen an und während des Essens bemerkte man, daß er an den Händen verkrustete Wunden habe. Der Mann legte außerdem ein so scheues Benehmen an den Tag“ („Grazer Tagblatt“, 30.01.1911, S. 6), dass der Wirt sofort einen Verdacht fasste und seinen Knecht zu dem Wachmann schickte. Der kam allerdings etwas zu spät und erst gegen Abend wurde der Gendarmerieposten von Andritz verständigt.
Die sozialdemokratische Zeitung „Arbeiterwille“ fasst die mediale Fahndung dann folgenderweise zusammen: „Alle Tage eine Sensation! Wieder zwei Verdächtige verhaftet, bald in dieser, bald in jener Gegend, aber die Täter hat man noch nicht. Die Jagd auf die Arbeitslosen geschieht in großem Maßstabe und die bürgerlichen Blätter denken gar nicht daran, daß es Arbeitslose auf der Landstraße gibt, die Arbeit suche, sie nennen jeden unter dem Verdachte des Raubmordes verhafteten, erhrlichen und unbescholtenen Arbeiter einen Landstreicher. Für die bürgerliche Presse sind arbeitslose Arbeiter eben nur Landstreicher!“ („Arbeiterwille“, 05.02.1911, S. 4).

Mobile Reporter
Das mediale Interesse ist somit immens groß. Die Zeitungen versuchen, immer die neusten Entwicklungen ihren Leserinnen und Lesern zu präsentieren. Um den Kontrahenten einen Schritt voraus zu sein, nutzen die Zeitungsblätter auch das neuste Transportmittel: das Auto. So fährt nach dem Mord von Happich ein Berichtbestatter „mit einem von der Firma P u c h freundschaftlich zur Verfügung gestellten Wagen nach Dobl“ („Grazer Volksblatt“, Abendausgabe, 25.01.1911, S. 2). Auch während des Prozesses wird ein „Spezialberichterstatter mit einem von dem Autounternehmer Herr S t r o h m e i e r selbst gelenkten Motorwagen in die Mordgegend geschickt“ („Grazer Volksblatt“, Morgenausgabe, 23.11.1911, S. 4), um für die Leserschaft verlässliche Informationen zu erhalten. Die Reporter werden dabei von den Unternehmen bei ihren Nachforschungen unterstützt. Anders ist es bei der Polizei. So fahren der Detektivchef Jöbstl mit seinen „Detektivs auf eigene Kosten in einem Auto nach Groß-Klein“ („Arbeiterwille“, 17.01.1912, S. 7), um nach der Ermordung von Peter Zitz nach dem Täter zu fahnden.

Die schnelle Übermittlung der möglichst neuesten Nachrichten führt jedoch zu Flüchtigkeitsfehlern: Aus dem Gasthaus Löschnitzer wird Möschnitzer. Das Opfer Georg Musger wird zu einem Jakob und der Familienname von Fr. Kaiser ist einmal Schwendner, dann Schwender oder auch Schweigler. Als sein Wohnort wird Hollerberg bzw. Hillerberg in der Gemeinde Pistorf bezeichnet. Eine gewisse Verwirrung hat wohl auch die Beziehung Josef Kaisers zum Bauer Zehrer geführt, der einmal als Vater und dann als Stiefvater bezeichnet wird. Wie auch immer: Der Raubmörder Kaiser fesselt die Leserschaft.
Gleichzeitig nutzen die Zeitungen den Prozess auch für ihre Zwecke. In den Artikeln der „Kleine Zeitung“ wird der eigene Zeitungsname mehrfach dick abgedruckt, als er im Prozess von den Zeuginnen und Zeugen erwähnt wird. So antwortet die Zeugin Cäcilia Scherübl auf die Frage nach der Zeitung, aus der sie ihre Informationen über die Ermordung von Josef Happich erfahren hat, dass sie „Die „Kleine Zeitung““ („Kleine Zeitung“, 18.01.1912, S. 6) zuhause habe. Auch Johanna Kaiser, die Ehefrau des Täters, berichtet, dass sie zuhause die „Kleine Zeitung“ erhalte.
Konkurrenz der Nachrichtenblätter
Der Erfolg der „Kleinen Zeitung“ bei ihrem Publikum lässt sich vielleicht mit den vielen Abbildungen erklären, die die „Kleine Zeitung“ im Gegensatz zu den anderen Zeitungen bereits bietet. Im „Grazer Tagblatt“, „Grazer Volksblatt“ und im „Arbeiterwille“ fehlen schlicht und einfach diese. In der „Kleinen Zeitung“ werden wiederum wichtige Protagonisten des Prozesses gezeigt: Dazu zählen der Verteidiger Dr. Johann Terstenjak, Oberlandesgerichtsrat Dr. Otto Rittler und der Staatsanwalt Dr. Erwein Höppler von Hermingen. Auch das Raubopfer Georg Musger und die Ehefrau sowie die Kinder des Raubmordopfers Peter Zitz werden nicht nur beschrieben, sondern auch bildlich gezeigt. Beigelegt sind auch die Darstellungen der Mordplätze als Darstellungen von Karten, die vermutlich nicht nur die Fantasie beflügeln, sondern auch eine Orientierung erleichtern sollen. Natürlich auch die Fotos vom Mörder Josef Kaiser und seiner Frau Johanna sowie ihrer Wohnstätte sind in der „Kleinen Zeitung“ zu finden. Gegen diese bildliche Darstellung, zumindest des Mörders, protestiert der „Arbeiterwille“ vom 18. Jänner 1912. In dieser Ausgabe ist zu lesen:
„Der Raubmörder als Reklame der „Kleinen Zeitung“
Gestern mittag wurde Kaiser mit Erlaubnis des Gerichtes von Aufsehern in den Hof geschleppt und dort von Photographen für die „Kleine Zeitung“ photographiert. Das ist sicher eine Ungehörigkeit, denn wenn Kaiser auch ein erbärmlicher Raubmörder ist, als Reklame für die „Kleine Zeitung“ ist er doch zu gut. Die Schmocks nahmen an dem Menschen eine förmliche Sportprozedur vor und photographierten ihn von allen Seiten. Es ist staunenswert, daß das Gericht zu einer solch widerlichen Sensationshascherei einen Häftling ausliefert.“
Wie ist wiederum die Unterstützung der Familie Kaiser zu werten, die das „Grazer Volksblatt“ unternimmt? Jedenfalls bedankt sich Johanna Kaiser artig für die Spenden, die sie und ihre Kinder erhalten. Der Dank – richtet sich nicht nur an die Zeitung – wird aber in dieser natürlich ganz groß abgedruckt.
